Der Körper der Moral

Menschlichkeit entsteht dort, wo Individuen ihr Leben miteinander teilen. Dieser Gedanke leitet das kürzlich bei Velbrück Wissenschaft erschienene Werk Der Körper der Moral von Helmut Pape. In seinem Text für das Velbrück Magazin präsentiert er eine einführende Skizze der Argumentation seines Buches und legt dar, wie ›Beziehungen‹ – verstanden als Augenblicke einer geteilten Gegenwart – uns Menschen erst zur Moral befähigen.

Helmut Pape

Der Körper der Moral

Versuch über den Anfang und das Ende des Menschlichen

Dies ist kein Buch über Ethik, sondern über die Vorbedingungen, denen jede Ethik und jedes Verständnis von Moral genügen muss, das für Menschen gelten soll. In einer These möchte ich zunächst jenes Verständnis des Menschen zusammenfassen, dass die fünf Kapitel des Buchs miteinander verknüpft: Menschen sind Möglichkeitswesen, die eine offene, durch keinen notwendigen Zusammenhang geschlossene Wirklichkeit in ihrem Leben gestalten. Es ist die miteinander hergestellte Nähe zueinander, durch die Menschen zusammen die offene Wirklichkeit ihrer Umgebungen verstehen und in ihr moralisch handeln können.

1. Die Thematik des Bandes

Der Körper der Moral thematisiert die Existenz- und Lebensform, aber auch die Lebenserfahrungen und Selbstverständnisse gegenwärtiger Menschen. Es geht darum, wie Menschen sich durch ihre Existenz, ihr Reagieren und Handeln zueinander und zu ihren Möglichkeiten positionieren. Dabei wird nicht von einem speziellen philosophischen Ansatz aus argumentiert. Vielmehr werden Konzepte verschiedener Philosophien, z.B. von Kant, Hegel, Heidegger, Peirce und Marten, mit den Ergebnissen moderner Wissenschaften über den Menschen verknüpft. Das Verstehen des Menschseins und seine Entwicklung ist, so glaube ich, nicht zu trennen von dem Verstehen der Möglichkeit von biologischen Prozessen in der physischen Umgebung eines Universums, das für die biologische und menschliche Entwicklung offen ist. Dieser Band erprobt einige Verallgemeinerungen, welche die Endlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens mit den Möglichkeiten und Entwicklungen verknüpfen, die in einer für biologisches Leben offenen Umgebung wirklich sein oder werden können. Es geht nicht darum, eine systematisch vereinheitlichende Theorie zu entwickeln, die überzeitlich notwendige Verkettungen und Zusammenhänge behauptet. Denn eine notwendige Einheit in einem überzeitlichen System allen Seins würde ein Verständnis für die in der Zeit offene Ökologie der Entwicklung menschlichen und anderen Lebens ausschließen. Vielmehr geht es darum, die Bedingungen von Moral auch von der Augenblicklichkeit der zeitlichen Existenz von Menschen her zu verstehen. Dies schließt die nur in einzelnen Augenblicken offenen Entwicklungen zu möglichen, wiewohl künftig vielleicht inkonsistenten Alternativen ein, die zum moralischen Handeln führen.

Die Rede vom »Körper der Moral« ist ein Bild für das komplexe Verhältnis zwischen Wirklichkeit, offenen Möglichkeiten und dem »körperlichen«, direkt material-ereignishaften Zugang, der von und zwischen Menschen im Augenblick besteht und in jeder Lebensform des Menschseins vorhanden ist. Auch dann, wenn er gerade durch digitale Medien überformt und ausgeblendet wird. Die These ist, dass Moral und Menschlichkeit von dieser materialen Ebene her verstanden werden können. Die Rede vom »Körper« steht also für einen Zusammenhang, der in der Zeit durch jene nahen Beziehungen gebildet wird, die nur zwischen Menschen bestehen.[1]

Dass Menschen nur in nahen Beziehungen in Gemeinschaften leben, lässt sich jedoch nicht auf irgendeine physische, biologische oder kulturevolutionär zufällige Tatsache reduzieren. Weder auf physische Resonanz noch auf die Tatsache, dass es genetisch einen Mann und eine Frau braucht, um ein Kind zu zeugen. Vielmehr entsteht aus der ereignishaft-materialen Beziehung einer miteinander teilend durchlebten Nähe die Fähigkeit zur Moral, zum »guten« oder »bösen« Agieren. Dies bedeutet, dass Menschen erst durch die Weise zu Menschen werden, wie sie in der Nähe zueinander finden, sich aufeinander einlassen, annehmen und zurückweisen, so dass es menschliche Moral und Leben nur als ein miteinander geteiltes gibt. Dies erfasst der Begriff Lebensteilung, der die das Menschliche ermöglichende »körperliche« Beziehung in der miteinander geteilten Zeit des Lebens beschreibt.

Es ist kein zufälliges soziobiologisches Faktum, dass kein Mensch allein durch sich selbst zum Menschen werden kann oder gar – wie Nietzsche meint – nur so, als Übermensch, zu einer absolut individuellen Moral finden könnte. Die Vorstellung eines sich und seine Moral vollständig selbstbestimmenden Übermenschen ist somit eine Fiktion von abstrakter Beziehungs- und Körperlosigkeit. Denn es ist die endliche Zeit des miteinander Durchmessens der geteilten Augenblicke, in der Menschlichkeit ihren Raum gestaltet, beginnt und endet. Das prägende Durchleben von Beziehungen des Teilens ist nicht nur für das Verstehen moralischer und ethischer Zusammenhänge entscheidend. Denn erst das biographisch prägend durchlebte Teilen ermöglicht, dass Menschen sich als Menschen verstehen und dadurch zum menschlichen Handeln befähigt werden. Wird dagegen der Mensch abgetrennt von Nahbeziehung nur als Individuum verstanden, so wird die Zeitlichkeit geteilten Lebens von einer Abstraktion ausgeblendet, die ignoriert, wie erst durch das biographische Erleben von Nähe Menschlichkeit und die Fähigkeit zur Moral möglich werden.

Wie sich das Verstehen von Moral und Mensch einschränkt, zeigt sich z.B. darin, wie Kant in der Ethik moralische Subjekte nicht als Menschen in endlichen Beziehungen zu anderen versteht. Vielmehr werden sie zu beziehungs- und umgebungslosen Wesen, die allein durch ihr rationales Denken genuin moralische Beziehungen selbst zu den nahen Anderen eingehen können. Dass es einen moraltheoretisch wichtigen Zusammenhang zwischen der Endlichkeit und Kontingenz menschlicher Beziehungen und der Ethik gibt, wird damit ausgeschlossen. Dieses Absehen von kontingentem menschlichem Leben im Namen rationaler, universaler Prinzipien gehört ebenfalls zu den impliziten Voraussetzungen, von denen totalitäre Ideologien, Politiken und Gesellschaften ausgehen, wenn sie Menschen im Namen ihrer höheren Wahrheiten opfern.

2. Der Gang der Überlegungen

Die allgemeine 1. These lässt es schon ahnen: Nicht alles, was in diesem Buch für das Verstehen des Menschlichen, der offenen Wirklichkeitsbedingungen und der Beziehung von all dem zur Moral des menschlichen Miteinanders zu berücksichtigen wäre, kann ausreichend behandelt werden. Den Gang der Überlegungen soll auch dieser Überblick über die fünf Kapitel des Bandes nur skizzieren und durch einige wichtige Punkte markieren. Die Einleitung entwickelt den in der These behaupteten Zusammenhang zwischen der Offenheit der Umgebungswirklichkeit und der Entwicklung des Menschen. Dieser Ausgangspunkt für den Verlauf der weiteren Überlegungen entsteht dadurch, dass das Körperkonzept radikal relational interpretiert wird. Denn es sind Beziehungen, Relationen, insbesondere die spezielle Beziehung und Relation zwischen nahen Menschen, die den Körper in der Zeit bestimmen. Dann ist die Beziehung der Lebensteilung jene erste, wirksame Beziehung zwischen zwei Menschen, die grundlegend für menschliches Sein werden kann. Es ist der Begriff der Lebensteilung, der dies für den Menschen darstellt und beschreibt, was ebenso unverzichtbar für das menschliche Selbstverständnis wie für die menschliche Fähigkeit zur Moral ist. Erst dadurch, dass Menschen augenblicklich füreinander und miteinander da und nah sind, Auge in Auge, Hand in Hand oder auch Geschlecht in Geschlecht, finden sie zu sich selbst und zueinander. Im Augenblick dieser relationalen Gegenwart im Miteinander finden Menschen zum Anderen und eben dadurch zu dem eigenen Selbst. Nämlich indem sie sich selbst im relationalen Einander ebenfalls als ein menschliches Gegenüber erfahren.

Das 1. Kapitel »Beziehungen« vertieft und klärt den Beziehungs- und Relationsbegriff. Dabei geht es zunächst um die Beseitigung der logischen, ontologischen und metaphysischen Missverständnisse, die in der Geschichte der Philosophie den Relationen eine Position der Nachrangigkeit gegeben hatten. Seit der Antike ging es in der Ontologie und Metaphysik stets primär um dingliche Entitäten. Nämlich um die Substanz, das Substrat, die Objekte oder um die »Dinge an sich«. Beziehungen, Relationen waren zufällige, kontingent flüchtige zweitrangige Bestimmungen und Eigenschaften des Erscheinens von primären Entitäten. Doch im 19. Jahrhundert zeigten Logiker und Mathematiker wie DeMorgan, Boole, Peirce und Schröder durch die Entwicklung einer mathematischen Algebra der Relationen, dass die prädikative Logik der Dinge, der Substanzen oder Subjekte aus der Logik der Relationen entwickelt wird. Kurzum, die »normale Logik« ist ein Spezialfall einer Relationenlogik. Nun folgt aus mathematischen Theorien nichts für inhaltlich philosophische Fragen. Denn was rein formal beweisbar ist, gilt auch nur formal und d.h. unter allen Bedingungen, in allen möglichen Welten. Es kommt also darauf an, zu zeigen, wie durch relationale Begriffe die grundlegenden Bestimmungen der menschlichen Lebensform verstanden werden können. Eben dies ist die Aufgabe dieses 1. Kapitels, das dann auch den Begriff der Lebensteilung genauer darstellt und konkretisiert.

Wenn Menschen ihr Leben nur dann gelingen kann, wenn sie durch Lebensteilung geprägt werden, dann muss das Gelingen von Lebensteilung immer wieder und zu jeder Zeit wirksam sein können. Man kann auch sagen: Solange Menschen existieren, ist es erforderlich, dass sie notwendig gelingt. Ihr Gelingen muss in jeden Augenblick menschlichen Seins möglich sein. Das 2. Kapitel »Gelingen« setzt sich damit auseinander. Nämlich darzustellen, warum Lebensteilung, wann immer sie zwischen Menschen gelingend zustandekommt, unweigerlich zum Fortbestehen und Fortführung des Menschlichen in diesem Augenblick führen muss.

Warum »muss« werden Sie fragen wollen. Nun ist zu beachten, dass dies Gelingen eine vormoralische Form des Guten ist und sie unweigerlich, also notwendig, durch den vollständigen Vollzug von Lebensteilung verwirklicht wird. Die These ist also: Das vormoralische Gute des Menschen kommt notwendig zustande, solange noch Menschenleben sich vollständig vollziehen können. Denn insofern als menschliches Leben teilend vollzogen ist, ist es damit auch als fortführbares gelungen. Diese Notwendigkeit ist lokal, weil sie auf die Augenblicke des exekutiven Geschehens begrenzt ist. Er entsteht dadurch, dass die Ausführung lebensteiligen Austauschs durch den Einen und den Anderen verknüpfte Geschehnisse erzeugt, die vollständig ausgeführt sind. Diese Art notwendiger Verknüpfung gibt es auch bei anderen menschlichen Tätigkeiten, die aneinander anschließen. Im Kapitel »Gelingen« wird am Beispiel des Webens am Webstuhl dies im Detail verdeutlicht. Es geht schlicht darum, dass das notwendig zwangsläufige Gelingen von Lebensteilung ein für das Menschen-Sein wirksamer Fall der Weise ist, wie Handlungen als Geschehnisse, die aufeinander folgen, zwangsläufig verknüpft sind.

Doch Sie alle wissen aus eigener Erfahrung: nicht in jeder Nähe zwischen Menschen gelingt dies austauschende aneinander Anschließen zum Miteinander. Die bloß räumliche Nähe ist nicht entscheidend: Erst durch die wechselseitige Offenheit des nahen Kontakts und Austauschs und des Einlassens auf den Anderen entsteht Lebensteilung. Doch oft tritt an die Stelle der Gleichwertigkeit im Sich-Aufeinander-Einlassen ein einseitiges Über-Wältigen, Übergehen oder Gewalt. Dann hat das Gegenüber oft keine Chance zum Verändern und Entgegnen, so dass Leben nicht geteilt wird. Im Gegenteil: Es ist ein häufiges Verhalten von einzelnen Menschen, sozialen Institutionen, Gruppierungen und politischen Organisationen, dass nahe Andere durch diskriminierendes, dominierendes, gewalttätiges Handeln keinen Raum der menschlichen Nähe zugestanden wird. Durch das Ausüben von Missachtung, Ausgrenzung, Ignoranz, Vergewaltigung, Gewalt und Mord wird die Möglichkeit eines Gelingens von Lebensteilung oft gezielt und mit ideologischer Absicht zerstört.

Das dritte Kapitel »Zerstörung« setzt sich mit diesem massenhaften, mörderischen Zerstören und Verhindern von Leben und Lebensteilung auseinander, und zwar anhand am Beispiel des Genozids an den europäischen Juden und anderer Ethnien in der Zeit des sogenannten Dritten Reichs. Für die theoretische Klärung und Begründung der Bedeutung von Lebensteilung ist dabei die Frage entscheidend, ob und wie Menschen, die Ausgrenzung, Gewalt, Mord und Zerstörung erfahren, trotzdem fähig bleiben können, sich wieder auf andere Menschen einzulassen und für sie moralisch einzutreten. Wichtig ist dabei, zu klären, ob und wie unter den Bedingungen der massenhaften Zerstörung von gelebter Menschlichkeit die Fähigkeit zum moralischen Handeln erhalten bleiben kann.

3. Gewalt und die niemals vollständige Einschränkung moralischer Befähigungen

Die Zerstörung von lebensteiliger Nähe ist nicht auf Extremfälle wie die ideologisch bereits als Massenmord geplante Entmenschlichung der Juden im Nationalsozialismus beschränkt. Denn auch im Deutschland unserer Tage wie generell in den heutigen westlichen Zivilisationen herrscht eine Überschätzung des Selbst. Nämlich eine Überbewertung des individuellen Selbst, des persönlichen Erfolgs, möglichst als finanzieller Profit, so dass das machtvolle Selbst nicht nur in neoliberalen Ideologien zum Ideal menschlichen Lebens geworden ist. Dadurch wird aber vielen weniger machtvoll selbstoptimierten Menschen lebensteilige Nähe verweigert oder durch Gewalt zerstört. Gerade aber Kinder, die dabei sind, sich zu entwickeln, und dabei lebensteilige Wechselseitigkeit einüben, prägt der Entzug oder die Verweigerung von Lebensteilung lebenslang, gerade in der Entwicklung moralischer Fähigkeiten.

Erst in der Schlussphase der Arbeit an diesem Buch ist mir bewusst geworden, wie mich selbst solche kindlichen Erfahrungen der verweigerten lebensteiligen Nähe beeinflusst haben. Es war etwa Ende Oktober 2022, da hörte ich im Deutschlandfunk einen Bericht über die Probleme einer Familie mit der Betreuung ihres zweijährigen Sohnes. Nach einer eher zufälligen Diabetes-Diagnose durch eine Kinderärztin wurde das Kind von seinen Eltern umgehend zur näheren Untersuchung auf eine dafür spezialisierte Station eines Krankenhauses gebracht. Nach der die Diagnose bestätigenden Untersuchung in der Klinik – es war inzwischen Nachmittag geworden – erklärten die Ärzte den Eltern, dass das Kind sofort behandelt und deshalb für die nächsten Tage auf der Station bleiben müsse. Sie könnten nunmehr nach Hause gehen. Der Vater berichtete von seiner Empörung: Nein, er und seine Frau würden ihren Sohn ganz sicher nicht allein über Nacht und in den folgenden Tagen im Krankenhaus zurücklassen, und sie setzten durch, dass sie dort übernachten konnten.

Ich war überrascht, wie sehr mich diese Äußerung des Vaters berührte, ja geradezu erschütterte. Der Grund für diese Reaktion wurde mir erst nach und nach, in den abschließenden Arbeiten an diesem Buch, klar: Der Satz des Vaters hatte Erinnerungen an frühe eigene Erfahrungen mit dem Verhalten meiner Eltern in ganz ähnlichen Situationen wachgerufen. Meine Eltern, sowohl meine Mutter als auch mein Vater, hätten sich nicht geweigert, mich allein in einem Krankenhaus zurückzulassen – im Gegenteil: Sie hatten mich, wie selbstverständlich, immer wieder im Alltag und auch in ähnlichen Situationen wie dem Krankenhaus allein zurückgelassen.[2]

Von diesen Erinnerungen an die prägende Erfahrung verweigerter lebensteiliger Nähe berichte ich Ihnen, weil sie für die Themen- und Problemstellung dieses Buches steht und zeigt, wie man durch diese Erfahrungen beeinflusst wird. Ohne dass mir dies zunächst bewusst war, ist wohl mein Interesse an der Bedeutung der Verankerung moralischer Befähigungen im Zwischenmenschlichen durch die vom DLF-Report ausgelösten Erinnerungen darauf gelenkt worden, wie die Entwicklung moralischer Fähigkeiten mit der Dynamik naher Beziehungen verbunden ist. In diesem Buch werden deshalb gerade jene Bedingungen des Miteinander des Eingehens von Nähe untersucht, welche die Fähigkeit zum moralischen Agieren beeinflussen. Außerdem steht dieser persönliche Ausgangspunkt auch dafür, wie individuelle und allgemeine Erfahrungen zusammenhängen. Dass das, was man selbst erlebt, bei aller Verschiedenheit der Erfahrungen der relationalen Form nach, auf alle Menschen zutrifft. Eine Behauptung dieses Buch ist, dass bei allen Menschen durch Beziehungserfahrungen das Nachdenken über moralische und ethische Themen und die Fähigkeit zum moralischen, menschlichen Handeln zusammenhängen. Die durchlebten prägenden Nahbeziehungen bestimmen nicht nur die Begrifflichkeit, Urteile und Auswahl von Tatsachen über den Menschen, sondern auch die künftige moralische Handlungsfähigkeit. Nämlich das jeweilige Handeln, das eben niemals nur vom rationalen Denken über Moral und Ethik ausgeht.

Doch zurück zu der Frage, die sich angesichts einer jede Lebensteilung bedrohenden Umgebung stellt: Was ermöglicht Menschen zum moralischen Handeln fähig zu sein, selbst unter den Extrembedingungen des Genozid und anderer Umgebungen der Bedrohung und Zerstörung von Leben? Diese Frage kann man anhand von Erlebnisberichten von Rettern und Überlebenden der Konzentrationslager und Verfolgung während des Holocausts genauer untersuchen. Einen guten Ausgangspunkt dafür liefern die Untersuchungen des amerikanischen Sozialpsychologen Samuel P. Oliner und seiner Frau Pearl in dem Band The Altruistic Personality. Rescuers of Jews in Nazi Europe aus den 80er Jahren. Diese Untersuchung erkundet mit modernen statistischen Methoden und Fragebögen die Motivation zum rettenden Handeln von 500 (aufgrund der Daten der Dokumente in Yad Vashem damals noch erreichbaren) Rettern von Juden im Europa der Nazi-Zeit. Denn nicht nur wenige, aufgrund der Berichte in der Presse, Film und den Medien bekannt gewordene prominente Retter wie Oskar Schindler, Hermann Gräbe und Raoul Wallenberg retteten damals Juden und andere Verfolgte. Vielmehr wurden ca. 200.000 Juden von vielen Tausenden Menschen aller Nationen gerettet. Oliner kann nun aufgrund seiner Interviews und vergleichenden Studien zeigen, dass nicht religiöse, ethische, politische oder gar finanzielle Motive für das rettende Handeln des größten Teils der Retter/innen ausschlaggebend waren. Sondern:

1.) die meisten handelten zunächst aus der situativen Wahrnehmung des Leids naher Menschen;

2.) in der großen Mehrzahl der Fälle – fast 70 % – wurden Menschen zu Rettern, die fähig waren, das Leid der Verfolgten wahrzunehmen und rettend zu handeln, weil sie in ihrer Kindheit gewaltfrei und lebensteilig erzogen worden waren.

Dies ist ein wichtiges Ergebnis des 3. Kapitels. Es markiert gleichzeitig den Übergang zum 4. Kapitel über »Gefühle«. Denn der Fehler, den die Oliners in der Interpretation ihrer Daten über die Motivation der Retter machen, besteht darin, dass sie allein die Ausbildung des Gefühls von Mitleid und Mitgefühl in der Vordergrund stellen und die Bedeutung der Beziehungserfahrungen der Retter übersehen. Die Oliners meinten, es sei nicht die Fähigkeit des Eingehens von nahen Beziehungen, die dem Mitgefühl seine Bedeutung gibt, und allein die Fähigkeit, Mitleid zu entwickeln, habe bereits die Wirkung, dass jemand zum Retter wird. Oder eben nicht, wenn er des Mitleidens unfähig ist. Im 4. Kapitel zeige ich jedoch, dass nicht das Gefühl als innerer Zustand, sondern die Fähigkeit zum Herstellen und Leben von Relationen, die dieses Gefühl verkörpern, entscheidend ist. Relational verstanden kondensieren sich im Erleben von Gefühlen jene Beziehungen, in denen sie erworben und gelebt werden. Gefühle sind niemals bloß auf einen inneren Zustand reduzierbare Ereignisse oder Vorgänge, sondern erlangen ihre volle Bedeutung erst im relationalen Feld des Umgehens mit Anderen und der Umgebung. Heinrich Heines Spruch »Und wenn ich Dich liebe, was geht es Dich an?« ist vielleicht die kecke Selbstversicherung eines Liebenden, der mit der Ablehnung seiner Liebe rechnet. Er bedeutet aber keineswegs, dass sich irgendeine Liebe, die für den Liebenden und Geliebten Bedeutung hat, darauf beschränken lässt, bloß innerlich, nur als ein innerer Gefühls- und Erregungszustand erlebt zu werden.

4. Wie moralische Befähigungen sich aus aktiver Gegenwärtigkeit mit Anderen entwickeln

Für das Erleben und das Umgehen mit Gefühlen für uns selbst und andere Menschen ist entscheidend, dass wir die Fähigkeit haben, mit Beziehungen umzugehen. Das 5. und letzte Kapitel beschäftigt sich mit diesen Fähigkeiten, die wir Menschen als Beziehungs- und Möglichkeitswesen entwickeln müssen – um in einer Umgebung miteinander leben zu können. Es geht aber auch darum, warum wir unsere fragilen, auf endliche, zeitliche Umgebungen gerichteten Befähigungen, die uns Beziehungen zu nahen Anderen und physischen Umgebungen ermöglichen, so oft in Religion und Metaphysik durch einen höchsten und letzten Sinn und Zweck überwinden wollen.

Was bedeutet es für Menschen, in der Zeit aller Augenblicke ihres Lebens sich in Beziehungen vorzufinden und mit ihnen umgehen zu müssen? Sollten wir anstreben, wie Nietzsche oder vielleicht wie einige heutige Milliardäre à la Elon Musk, die davon träumen, sich selbst aus allen Beziehungen herauszulösen, rein und absolut zu einem völlig unabhängigen Selbst, einem Über-Ich zu werden, das aus sich heraus alle Beziehungen autonom und autark zu beherrschen vermag? Gegen diesen anti-relationalen Schatten des übermächtigen Selbst, der sich gebieterisch und beziehungszerstörend über alle Fähigkeiten und Einsichten legt, argumentiert das Kapitel »Fähigkeiten«. Es zeigt, dass es zum einen die unhintergehbare Zeitlichkeit des aktiven Nutzens menschlicher und physischer Möglichkeiten ist, durch die Mensch-Sein sich befähigend entfaltet. Auf der Seite der Wissenschaften wird dabei an die Entdeckungen der Quantenphysik und der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik von Priogogine anknüpfend daran erinnert, dass die Ordnungs- und Möglichkeitsbedingungen allen Lebens als zeitliche Ordnungsformen verstanden werden müssen, die sich auf der ihnen eigenen makroskopischen Ebene entfalten. In diesem Sinne geht es – so der Titel eines Abschnitts – um »Menschliche Möglichkeiten und was auch ohne Menschen möglich ist«.

Das zentrale Argument dieses Kapitels besteht in einem Schritt, der die materialen Bedingungen der sprachlichen Gegenwart im Dialog thematisiert. Dies geschieht durch die Beschreibung eines Verlaufmodells für das Sprechen von Angesicht zu Angesicht, das dies dialogische Sprechen als lebensteiligen Prozess rekonstruiert, der eine semiotische und ereignislogische Beziehungsstruktur offenlegt. Es zeigt, wie Menschen in jedem Augenblick des dialogisch geteilten Lebens mit den materialen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Miteinander in der Zeit lebensteilig umgehen können.

Mit einem Blick auf die einzigartigen Studien ganzer, nämlich lebenslanger Lebensläufe, die vom Mediziner und Psychologen George E. Vaillant vorgelegt wurden, wird dann deutlich: Schon indem Menschen miteinander von Angesicht zu Angesicht sprechen, miteinander essen, wahrnehmen und träumen, vermögen sie sowohl Gemeinschaften des Lebens wie die Fiktion ihrer Unendlichkeit miteinander zu teilen. Doch nur indem wir uns über die freie, fiktionale und poetische Beschaffenheit unserer Träume von einer eigentlich unmöglichen Überendlichen, überzeitlichen Wirklichkeit aufklären, werden Menschen der Augenblicksgebundenheit ihres Lebens sowohl verstehend als auch handelnd gerecht.

Abschließend möchte ich in vier Thesen einige der zentrale Aussagen des Buchs zusammenfassen:

1. Der Körper der Moral entsteht und besteht aus prägenden nahen Beziehungen zwischen Menschen.

2. Menschen, die Beziehungen der wechselseitigen Nähe im Miteinander erleben, erfahren sich selbst als Menschen und als miteinander verbunden. Beide Erfahrungen sind für die Entwicklung moralischer Fähigkeiten unverzichtbar.

3. Durch das gelingende wechselseitige Erfahren von Anderen in der Folge von Lebensaugenblicken befähigt die erfahrene Lebensteilung Menschen, sich selbst als Wesen zu verstehen, die moralisch für sich und Andere handeln können.

4. Die erste Freiheit für Menschen liegt in der Möglichkeit des Eingehens von wechselseitigen Beziehungen der Nähe, des Blickens, Berührens, Umarmens von nahen Anderen.


[1] Sie sind es, die zur Moral und zur Menschlichkeit befähigen, weil sie als material-ereignishafte, nahe Beziehungen die Entwicklung moralischer Fähigkeiten gestatten, die sonst nicht möglich wären.

[2] So auch – ich war acht oder neun Jahre alt – für vier Wochen in einem angeblichen Kindererholungsheim in Bad Salzdetfurth, in dem Kinder durch Fesseln, Schlagen und Essenszwang misshandelt wurden. Obwohl ich meinen Eltern dies alles bei ihrem Besuch dort in der Mitte der Zeit meines Aufenthalts von mehreren Wochen unter nicht aufhörendem Weinen geschildert hatte, wurde ich von ihnen dort mit nur wenigen Bemerkungen vom Typ »wird schon nicht so schlimm sein«, »nun stell dich nicht so an« zurückgelassen. Als ich nach den Wochen im Heim wieder nach Hause zurückkam, sagte ich zu ihnen, dass ich von ihnen fortlaufen und nicht wieder zurückkehren würde, sollten sie noch einmal versuchen, mich in ein solches Heim zu stecken. Diese Verletzungen gehörten zu den Gründen, die mich – obwohl es da um Anderes ging – im Jahre 1962 als Zwölfjährigen motivierten, mit der Bahn nach Helmstedt, an die Grenze der DDR, zu fahren. Von dort aus rief ich meine Eltern an und sagte ihnen, dass ich in die DDR gehen würde, wenn sie nicht aufhören würden, ständig miteinander zu streiten.

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