Wissenschaft denkt nicht

»Wissenschaft denkt nicht«, so heißt es bei Martin Heidegger provokant. In seinem Beitrag für das Velbrück Magazin schlüsselt Manfred E.A. Schmutzer (Autor von PANTA RHEI. Die Geburt der Wissenschaften, Velbrück Wissenschaft 2011) diesen rätselhafen Satz auf – nicht zuletzt, um vor dem wohlmeinenden Vorhaben zu warnen, »Wissenschaftsskepsis« zu bekämpfen. Hier wird nämlich der bedeutende Unterschied vergessen, der zwischen ›Denken‹ und ›Wissenschaft‹ besteht.

VON MANFRED E.A. SCHMUTZER

Dieser Satz ist, wie Martin Heidegger, von dem er stammt, selbst sagt: provokant. ›Provokant‹ bedeutet: ›Aufrufend‹ und er ist somit eine Aufforderung. Er fordert auf, obigen Satz zu entkräften – oder: zu verstehen?.

Zweifellos gibt es unterschiedlichste Verfahren, diesen Satz zu widerlegen. Doch bevor man sich in diesen Wirrwarr begibt, scheint es ratsam, sich zu fragen, warum sagte Martin Heidegger so etwas. Und weil wir schon beim Überlegen sind, ist es zugleich auch naheliegend zu fragen, warum wird dieser Satz hier und jetzt überhaupt bemüht.

Diese neuerliche Frage ist leicht zu beantworten. Weil das höchste Zentrum der Wissenschaften in Österreich, die Österr. Akademie der Wissenschaften, scheinbar redlich besorgt, einem kommerziellen Meinungsforschungsinstitut den Auftrag erteilt hat, das Ausmaß der ›Wissenschaftsskepsis‹ in unserem Land fest-zustellen.

Was denkt sich eigentlich die hochlöbliche Akademie, wenn sie solche Aufträge erteilt? Man darf vermuten, nicht viel oder nichts! Diese Wissenschaft denkt ja vorgeblich nicht! Sie be-denkt meistens nicht, was sie tut. Zumindest wird kaum erläutert, warum solche Studien in Auftrag gegeben werden. Die Richtigkeit obiger Behauptung ist somit praktisch nachgewiesen. Reicht das? Einem ernstzunehmenden Wissenschafter schwerlich.

Trotzdem sei hypothetisch zugebilligt, dass es eine Art von Schmerzempfindung und Sorge um das vorgebliche Wohl des Landes ist, welche die Akademie, scheint’s gedankenlos, solche Aufträge erteilen lässt.

Doch, ›Nein‹. So völlig ›gedankenlos‹ hat sie nicht agiert. Sie schickt nämlich in bewährter Tradition bereits Missionare aus, die das verdummte, nicht-denkende und ungläubige Volk überzeugen und bekehren sollen. Schon damit demonstriert sie, was ihr tiefer liegendes Anliegen ist: Bekehrung, d.h. die Menschen zurück auf den rechten Pfad zu führen und zurückzubringen in den Schoß der ›Glaubensgemeinschaft‹. Das ist im Abendland ein wohlbekanntes Verfahren, doch wie die Geschichte lehrt, meistens bewirkt es das Gegenteil. Und wieso? Weil die Missionare meistens nicht be-denken, was die zu Missionierenden denken. Diese sind nämlich keine Wissenschafter – und denken daher.

Obige Aussage von Martin Heidegger ›Wissenschaft denkt nicht‹ verlangt offenbar eine nähere Bestimmung des Wortes ›denken‹. Was der Begriff ›Denken‹ abdeckt, ist mannigfaltig. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, alle komplexen Bedeutungen nachzuzeichnen. Wer sich darüber informieren möchte, kann sich rasch und umfassend in WIKIPEDIA ›schlau‹ machen. Was sich dort allerdings kaum findet, ist, was Heidegger darunter versteht.

Dieser Eintrag ist kurz. Er lautet:

»Martin Heidegger, einer der Hauptbegründer der Phänomenologie, beschreibt das Denken als einen Weg. Das zu-Denkende entzieht sich dem Menschen und zieht ihn mit. Weil sich das zu-Denkende dem Menschen entzieht und sich von ihm abwendet, nimmt es ihn in Anspruch. Der Mensch wird dadurch zu einem Zeichen und verweist auf das, was sich ihm entzieht.«

Man darf annehmen, dass diese Information keinen allzu hohen Informationswert hat, selbst dann, wenn man sich mit der nicht immer leicht verständlichen Philosophie Heideggers bereits beschäftigt hat.

Obige Aussage ist nicht nur für Wissenschaftler provokant, sondern für jeden braven Bürgersmann (oder Frau). Diese denken zwar meistens im Sinn Heideggers kaum selbst – man hat es ihnen schon in den Schulen abgewöhnt –, aber sie meinen zumindest zu wissen, was ›denken‹ heißt, und auch: wer die Spezialisten fürs Denken sind: nämlich jene an die diese Tätigkeit taxfrei delegiert wurde. Warum?

Was tun diese Spezialisten? Sie denken angeblich. Man nennt sie allerdings meistens ›Wissen-schafter‹, das heißt: sie ›schaffen‹, wie schon der Name sagt: ›Wissen‹. Die meisten meinen dann, dieses Wissen sei das Ergebnis des Denkens, ihres Denkens. Wollen wir aber weiter fragen, was ›wissen‹ eigentlich meint, dann erfahren wir aus der Etymologie, dass es Ähnliches wie ›finden, entdecken, erblicken‹ meint. Sind ›denken‹ und ›wissen‹ bzw. ›entdecken‹ dasselbe?

Jenes Schaffen von Wissen ist, entgegen von allerorts gemachten Beteuerungen, kein wertfreies Handeln, sondern eingebettet in einen Wertekanon. Dieses ›Entdecken‹ und ›Herstellen‹ ist u.a. auf ›Zeug‹ angewiesen, wie Heidegger das bezeichnet. Dieses ›Zeug‹ ist das wissenschaftliche Instrumentarium, d.h. einer ›Aus-rüstung‹ ohne die schon seit Generationen nichts mehr zu entdecken und zu erobern ist.

Denken benötigt dagegen kein ›Zeug‹. Denken ›ist‹, wie Heidegger sagt, und es ist frei. Was ist es? Frei ist es! Was ist hingegen das ›Entdecken‹ und ›Erblicken‹? Es ist abhängig von Zeug und folglich unfrei.

Obiger Satz: »Denken ›ist‹«, und »es ist frei.«, kann auch als sehr komprimierte Darstellung von Heideggers Philosophie gelesen werden.

Da es mir scheint, dass der eingangs genannte anstößige Satz ohne ein gewisses Hintergrundwissen schwer zu ›kapieren‹ ist, will ich mich auf eine, ein wenig weniger komprimierte Darstellung als in WIKIPEDIA ein-lassen.

Heideggers Philosophie

Heideggers Philosophie beschäftigt sich mit dem Wort ›Sein‹, das nach Heidegger mehrdeutig ist. Das Wort hat drei sehr unterschiedliche Bedeutungen. Zwei davon tauchen bereits in jenem Satz auf. »Denken ›ist‹« besagt, dass es Denken gibt, Denken oder Gedanken sind ein Seiendes. Es gibt sie. Aber derselbe Satz sagt auch, »es ist frei«. Diese Aussage meint nicht, dass es Denken gibt, sondern dass es etwas ist, nämlich frei. Sie bezeichnet somit eine Qualität des Seienden oder, wie Heidegger gelegentlich in der Tradition mittelalterlicher Denker dies nennt, eine ›Was-heit‹ oder ›quidditas‹. Diese ›quidditas‹ bestimmt die Wahrheit des Seins. Nicht die Frage, ob etwas ist, sondern die Frage, ›was ist es‹, be-stimmt das Sein des Seienden. Diese Frage vermag, nach Heidegger, die Wissenschaft nicht zu beantworten. Wir wissen auch heute, dreihundert Jahre nach Newton, nicht, was etwa die Schwerkraft ist oder was Materie, Energie etc. ist. Schon Al-Farabi, der große muslimische Denker, hat diese Feststellung gemacht: Wir wissen, wie etwas ist, aber nicht, was es ist.

Um aber abschließend noch die Liste der Bedeutungen des Wortes ›Sein‹ zu vervollständigen, sei in Kürze auf dessen dritte Deutung eingegangen. Sie stammt überwiegend von Platon und besagt, dass das Sein – im Prozess der Wesensbestimmung eines Begriffs durch Abstraktion gewonnen – das Höchste und schlussendlich Letzte ist, was in diesem Prozess noch übrig bleibt[1]. Dieser Rest wird aber von Platon zu einem ›Seienden‹, einer › platonischen Idee‹ hochstilisiert, die nicht nur der Gipfel des Abstraktionsprozesses ist, sondern eben zugleich das höchste Seiende, quasi das Göttliche, zugleich jedenfalls das Gute und Schöne ist, nein: sein muss. Dagegen verwehrt sich Heidegger dezidiert, denn nicht grundlos stellt er fest, dass dieses Sein eben kein Seiendes ist, dass es es also nicht gibt. Das Sein, so könnte vereinfachend gesagt werden, ist eben die ›Was-heit‹ eines Seienden, ein ›Prädikat‹, das sich im Laufe der Geschichte ändert und zur Unterscheidung von der gängigen Vorstellung bei Heidegger später deshalb ›Seyn‹ geschrieben wird.

Wissenschaft ist kein »Betrieb«

Doch kehren wir zum Ausgangspunkt zurück! Die Feststellung, dass das ›Entdecken‹ und ›Erblicken‹ abhängig von Zeug und folglich unfrei ist, bedarf kaum einer weiteren Erläuterung. Es sei daher nur andeutungsweise daran erinnert, dass etwa eine maßgebliche Bedingung für die Verleihung der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung, des Nobelpreises, die Nützlichkeit der Entdeckung ist. So hat etwa A. Einstein den Nobelpreis nicht für die Relativitätstheorie, sondern für ein Experiment erhalten, das nützlich-praktische Anwendungen erlaubte. Der diesjährige Preis für die Physik wurde für eine bzw. zwei Methoden verliehen, die erlauben, ›Quantenpunkte‹, das bedeutet Nanokristalle herzustellen, die dann u.a. beim Bau von Quantencomputern dienlich sein werden. Wozu aber diese angeblich ›nützlichen‹ Dinge tatsächlich verwendet werden, be-denken die Wissenschafter meistens nicht. Sie träumen nur idealistisch von Fortschritten.

Offensichtlich ist dieses Schaffen von Wissen schon seit langem nicht ohne den Einsatz von beträchtlichen, wirtschaftlichen Mitteln möglich, die nicht umsonst zu haben sind. Dieses Schaffen wird folglich auch in angemessener, korrespondierender Weise belohnt, nämlich mit schwedischen Kronen. Und die notwendigen wirtschaftlichen Mittel für jenes Schaffen werden genauso hauptsächlich dann zur Verfügung gestellt, wenn eben ein korrespondierender, wirtschaftlicher Nutzen zu erwarten ist.

Diese Tendenz zur praktischen Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat etwa im 17. Jhdt. begonnen. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs durch die Großforschungsunternehmen zum Bau der Atombombe in Los Alamos und zur Entwicklung von Computern zum allgemeinen ›Credo‹. Heidegger bezeichnet daher diese Weise der Erkenntnisgewinnung als ›Betrieb‹. Er meint das wörtlich, wie meistens, wenn er unübliche Bezeichnungen einführt. Die Gesamtrichtung dieser Entwicklung fasst er aber unter Bezug auf F. Nietzsche so zusammen. Ich gebe sie stark verkürzt wieder:

Die neuzeitliche Forschung ist mit ihren Weisen des Vorstellens und Herstellens von Seiendem in den Grundzug einer Wahrheit eingelassen, der durch den »Willen zur Macht« gekennzeichnet ist. Dieser »Wille« setzt das Seiende mit dem Wirklichen dergestalt gleich, dass die Wirklichkeit des Wirklichen in der bedingungslosen Machbarkeit und der durchgängigen Vergegenständlichung vorgestellt wird. Die neuzeitliche Wissenschaft dient zunächst einem ihr angetragen Zweck und sucht keine »Wahrheit an sich«. Sie ist eine Weise der rechnenden Vergegenständlichung des Seienden. (So werden zum Beispiel Gedanken in der ›Hirnforschung‹ als elektrische Ströme vergegenständlicht). Durch diese Vorgehensweise oder ›Methode‹ (Methode bedeutet ja: der ›Weg‹) sichert jener Wille die Herrschaft seines Wesens. Seine Macht beruht in jener bedingungslosen ›Machbarkeit‹ und im mehrdeutigen Begriff ›Vermögen‹, die beide nicht zu trennen sind. Weil jedoch all diese Vergegenständlichung des Seienden in der Beschaffung und Sicherungdes Seienden aufgeht, verharrt diese Vergegenständlichung beim Seienden und hält dieses vergegenständlichte Seiende schon für das Sein.[2]

›Wissenschaft dient‹ ist wohl eine zentrale Aussage dieser Zeilen. Sie dient nicht der Wahrheitssuche, sondern einer Herrschaft. Selbst wenn man Hegels kluge und wichtige Beobachtung nicht außer Acht lässt, dass der Herr vom Diener abhängig wird, bedeutet das noch lange nicht, dass der Diener frei ist. Die Macht des Dieners ist reichlich beschränkt und es kann folglich nicht überraschen, dass er sich die Denkweise seines Herrn aneignet. Erst dann ist er ein brauchbarer Diener, der ›die Herrschaft sichert‹ und im ureigensten Interesse nicht hinterfragt.

Denken ist frei

Denken ist, im Gegensatz zum ›Wissenschaftsbetrieb‹ frei. Denken braucht nicht einmal jenen Bleistift, den manche Mathematiker für ihre Arbeit für nötig erachten. Im Allgemeinen wird daher Denken, das nicht dient, auch nicht in vergleichbarer Weise belohnt, ja oft wird es sogar bestraft – etwa in Schulen. Dort ist selbstständiges Denken meistens unerwünscht, weil es undogmatisch ist. Der tiefere Sinn unserer Schulen besteht nämlich darin Persönlichkeiten zu schaffen, die vor allem angepasst sind. Das war schon Maria Theresias Anliegen, als sie die allgemeine Schulpflicht einführte. Verallgemeinernd kann man sagen, dass derartig undogmatisches Denken das ist, was heute als ›Wissenschaftsskepsis‹ abgetan und sogar verfolgt wird. Ansonsten wäre man ja nicht daran interessiert zu erforschen, welche und warum manche Mitmenschen Skeptiker sind. Man erachtet es, unausgesprochen, als notwendig diese zu missionieren bzw. mundtot zu machen. Dabei ist doch dieses zweifelnde ›Prüfen‹ selbst ein essentieller Bestandteil wissenschaftlichen Handelns. Doch in einem dogmatischen Betrieb wird es als Infragestellen der Herrschaft empfunden und deshalb kontrolliert und diskriminiert (d.h. ausgegrenzt).

Heutige Wissenschaft hat zur Sicherung der Herrschaft folglich gleichzeitig mehrere Rollen zu erfüllen. Eine davon ist, Wahrheit zu verkünden. Dazu dienen ›Experten‹ und Gutachten. Sie übernimmt so eine wesentliche Aufgabe von Religionen, die gleichfalls für die Bereitstellung endgültiger Wahrheiten zuständig sind. Solche ›Wahrheiten‹ liefern die, für Herrschaft nötige Legitimationsbasis. Mithilfe solcher Legitimierung wird ›jegliche Politik‹, egal welcher Interessensgruppen, bedient und deren Handeln als ›rational‹, und folglich alternativlos, legitimiert.

Wenn also Wissenschaft nicht denkt, weil sie gar nicht hinterfragend denken soll und darf, dann ist eine andere Frage unvermeidbar: Was denkt eigentlich jenes freie Denken? bzw.: Was ist das ›We-sein‹ dieses freien Denkens? Für Heidegger kann die Antwort nur sein: ›Denken‹ hat die Frage nach der ›Wahrheit des Seins‹ zu stellen, wenn es frei sein will. In anderen Worten: Denken heißt die ›Was-ist-das-Frage‹ stellen.

Dieses Sein lässt sich jedoch nicht wie das betrachtete Seiende gegenständlich vor- und herstellen, denn das Sein wandelt sich im Laufe der Zeit, so wie jede Wahrheit. Das ist eine Beobachtung, die u.a. schon der christliche Denker Isidor von Sevilla im 6./7. Jhdt. gemacht hat.

Heideggers Aussage, das Sein ließe sich nicht herstellen, erscheint mir allerdings zu verallgemeinernd. Natürlich wird das Sein auch wunschgemäß hergestellt, und zwar nicht nur bei ›technischem Zeug‹: Ein Hammer (ein beliebtes, oft belächeltes Beispiel Heideggers) wird als solcher erzeugt. Man kann allerdings auch einen Stein zunächst als Hammer wahrnehmen und verwenden und ihn so zum Hammer machen.

Aktueller ist allerdings etwa die Frage, ob jemand eine Frau oder ein Mann oder sonst was ist: entsprechend wird dann dieser Mensch behandelt, erzogen, d.h. gemacht. Ein anderes Beispiel wäre die Frage: Bist Du ein Arbeitstier oder ein Nahrungsmittel etc.? Allein durch diese Bezeichnungen werden Tiere entsprechend be-handelt und zu dem einen oder anderen gemacht. Angemerkt sei, dass Be-handeln eben auch ein Handeln und somit auch ein ›Machen‹ ist.

Heidegger sieht das etwas anders, sagen wir großflächiger. Er dachte aus der Position seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Metaphysik: Das Sein – die Was-heit – ›entschleiert‹ sich »als das von allem Seienden ›Sichunterscheidende‹. Dieses nennen wir dann ›das Sein‹. [3]

Dieses ›Entschleiern‹ ist vor allem für den ›späteren‹ Heidegger ein historischer Prozess, den er mit ›Geschick‹ bezeichnet. Ob etwa ein zweibeiniges Lebewesen als Mensch oder als ›Nicht-Mensch‹ betrachtet wird, in der Antike etwa als Sklave, Frau, Barbar, heute eher als ›Un-mensch‹, Skeptiker, ›Querdenker,‹ Affe etc., ändert sich im Laufe der Geschichte. Es ändert sich dabei zwar zunächst nur der Begriff ›Mensch‹. Ein ›seiender Mensch‹, anfänglich ›Sklave‹ später vielleicht Freigelassener und damit nun auch ›Mensch‹, hat deshalb immer noch zwei Beine wie zuvor etc., egal ob er ›Sklave‹, ›Barbar‹ oder sonst was ist. Aber sein Verhalten und das seiner Umwelt ändern sich durch die Nennung ihres Seins. Das Verhalten, das drückt zugleich auch das Verhältnis zwischen ›Subjekt und Objekt‹ aus und bestimmt die wesentlichen Komponenten des ›We-seins‹. Es findet sich demnach nicht im oder am Seienden, sondern im Verhältnis. Somit handelt es sich um eine Sache der Wahrnehmung. Werden beispielsweise manche Menschen als ›Terroristen‹ bezeichnet und wahr-genommen, so wird ihnen Recht, das andere Menschen beanspruchen dürfen, abgestritten. Man darf sie bombardieren und ermorden, nach Gutdünken, denn sie sind ›Un-menschen‹[4], also keine Menschen.

Folglich meint Heidegger auch: ›Wo immer und wie weit auch alle Forschung das Seiende absucht, nirgends findet sie das Sein. Sie trifft mit ihrer Methode immer nur das Seiende, weil sie zum Voraus in der Absicht ihres Erklärens beim Seienden (als Anwesendes und als Objekt) verharrt. ›Das Sein jedoch ist keine seiende Beschaffenheit an Seiendem‹. Ein Mensch (i.e.: ein Seiendes) kann beispielsweise zum Terroristen gemacht werden, ein Staatspräsident zum Verbrecher und dann trotzdem wieder Staatspräsident werden, ein Mann zur Frau etc.

»Zur Wahrheit des Seins gehört aber trotz allem, dass das Sein nie west ohne das Seiende (wie etwa Platons ›höchstes Sein‹, das bei diesem allerdings ein Seiendes, bei uns keines, ist), niemals aber ein Seiendes ohne das Sein‹ ist«[5], und zwar im Sinne der zweiten Deutung von ›Sein‹, das ist die ›Was-heit‹. Im Allgemeinen wird vor allem zuerst das Sein wahr-genommen. Was ist das? Ein Schreibtisch. Was pfeift da? Der Wind etc.      

Heideggers obige Aussage sollte etwas ergänzt werden: Es gibt Dinge deren Sein unklar ist, weil sie sich in das die Seinheit bzw. das ›We-sein‹ bestimmende Ordnungssystem nicht einfügen lassen. Aktuelles Beispiel wäre noch einmal die Diskussion über die Zugehörigkeit zu einem Typus, etwa weiblich oder männlich. Solche Unsicherheiten schaffen Streitfälle und werden gerne mithilfe von ›Spezialbehandlungen‹ solch unklarer Fälle gelöst. Eine Methode ist dabei etwa, sie zum Tode zu verurteilen, d.h. ihr Seiend-sein zu vernichten und somit der gängigen Ordnung im wahrsten Sinn des Wortes geopfert oder aber heiliggesprochen, bzw. beides zu werden[6].

Erwin Schrödinger stellt z.B. in einem Aufsatz[7] folgende Frage: ›Was ist das, wovor ich sitze? Ein Schreibtisch oder ein chaotischer Haufen von Löchern in denen irgendwelche Elektronen und andere Teilchen herumschwirren? Diese nimmt er allerdings nicht wahr. Er ›imaginiert‹ sie nur dazu, wie das Schrödinger (ibid.) selbst bezeichnet. Trotzdem kann man sie mithilfe gewisser Instrumente wahrnehmen. Seine Frage ist folglich berechtigt.

Ähnliche Fragen haben sich mehrere prominente Physiker des 20. Jahrhunderts gestellt. Solche würde Heidegger – wie allein schon der Titel von Schrödingers Aufsatz deutlich macht – als ›Philosophen‹ bezeichnen und nicht als ›Wissenschafter‹. Sie stellen sich und stehen nämlich frei- und -willig außerhalb ›des Betriebs‹ ihrer Wissenschaft.

Derartige Überlegungen bedeuten zusätzlich, dass das jeweilige Sein kein Prädikat, d.h. keine Aussage ist, wobei man für die Bestimmung des Wesens bestimmte Attribute abstrahieren kann, wie etwa die Farbe eines Pferdes oder die Größe eines Hauses. Ihr ›We-sein‹ bleibt auch ohne Farbe oder Größe, was es ist: Pferd bzw. Haus. Deren ›We-sein‹ macht eben das Pferdhafte bzw. das Haushafte aus. Dieses ›We-sein‹ wird in gängiger Weise durch Abstraktion und Vergleich erzeugt. Würde man allerdings dieses Wesen-tliche des ›We-seins‹ wegleugnen und abstrahieren, bliebe nichts oder ein völlig anderes Seiendes, etwa ein ›Lebewesen‹ oder eine ›Be-hausung‹, die auch eine Höhle, ein Zelt oder ein Iglu sein könnte, aber kein ›Haus‹.

Was ist der ›Mensch‹, ein Vektor?

Weil jedoch alle Bestimmungen des Seienden in der ›Machbarkeit‹ bzw. Herbeischaffung und Sicherstellung des Seienden aufgehen, verharrt diese ›Vergegenständlichung‹ beim Seienden und hält dieses Vergegenständlichte schon für das Sein. Dieses nennt man dann die Wahrheit über das Seiende, nämlich als objektiviertes Objekt, d.h. als Gegenstand. »Die Metaphysik ist die Geschichte dieser Art von Wahrheit. Sie sagt, was das Seiende sei (MS: d.h. die Was-heit, also: Sein II), indem es die Seiendheit des Seienden zum Begriff bringt.«[8], und zwar nicht nur der andere fremde, sondern auch der eigene Körper, und zusätzlich auch das, was die Alten als ›anima‹ oder ›Psyche‹ bezeichneten.

Deshalb bleibt noch zu klären, was ›zum Begriff bringen‹ heißt. ›Begriff‹ bezeichnet das Produkt einer Abstraktion. Ein Begriff wird aber mit dem vorliegenden, entblößten Seienden gleichgesetzt. Wir fassen daher das Seiende nicht mehr in seiner Gegenständlichkeit, sondern entkleidet, in seiner nackten Begrifflichkeit. Theodor Adorno[9] hat diese kühne Gleichmachung (er nennt sie ›Identi-fikation‹) von Begriff und Sache fundierter Kritik unterzogen. Er weist darauf hin, dass mit dieser Weise des Abstrahierens die Menschen nicht nur auf die Dinge einen Zwang ausüben. Zusätzlich, da diese Gleichsetzung von Begriff und Sache auf gesellschaftlichen Maßstäben beruht, wirken sie auf die Menschen in einer Gesellschaft bzw. ›Kultur‹ zurück, indem sie die seienden Menschen selbst zur Sache machen. In diesem, auf solche Weise bestimmten Wesen eines seienden Menschen wird er nun selbst zum Gegenstand bzw. zum Objekt von Herrschaft und Macht. Damit stellt sich allerdings zugleich eine neue Frage: Was ist denn das We-sein des Menschen? Ihre Beantwortung werden wir weiter unten versuchen.

Im Augenblick möchte ich aber auch einem denkenden Philosophen, der zugleich Nobelpreisträger der Physik ist, zu Wort kommen lassen: Erwin Schrödinger. Der Physik-Nobelpreisträger schreibt: In der Forschung »schwebt als Ideal vor: alles Persönliche, Subjektive muss ausgeschaltet werden, das Ziel ist ausschließlich die Auffindung reiner, objektiver Wahrheit, die jeder nachprüfen kann mit demselben Ergebnis, unabhängig von seinem Temperament.«[10]

Dieses ›Ideal‹ wurde im Zuge der um-sich-greifenden Ver-wissenschaftlichung und damit der ›Ver-Betriebswirtschaftlichung‹ der Medizin mitübernommen und so geschah es, dass ›der Mensch‹, wie schon oben besprochen, nun vom ›Patienten‹ zum Forschungs-objekt und ›Gegenstand‹ wurde und als Vektor betrachtet wird.

Dieser damit einhergehende Prozess der Verdinglichung und Entfremdung der Menschen wird besonders virulent, wo das Wesen eines Menschen gleichgesetzt wird einer Assemblage von isolierten Daten, d.h. zahlenmäßig kodierten Fakten, die schlussendlich seine Behandlung und damit das gesellschaftliche Verhältnis festlegen sollen. Diese Reduktion des We-seins eines Menschen auf einen Zahlenvektor ist nicht nur zwanghaft, sondern zutiefst entwürdigend. Es handelt sich um eine neue Form der Entmenschlichung, nicht anders als die oben angeführten früheren Differenzierungen. Im Angesicht solcher Entwürdigungen sollte man sich aber nicht wundern, dass jener ›Wissenschaftsskeptizismus‹ um sich greift, der zugleich von den ›Praktikanten‹ dieser Wissenschaften in ihrem engen Verständnis des Seins des Seienden nicht nachvollzogen werden kann.

 ›Wissenschaftsskeptizismus‹

Es entspricht dem Geist dieser ›Praktikanten‹ eine empirische Erhebung durchführen zu lassen, die herausfinden soll, wo dieser ›Un-geist‹ beheimatet ist. Er demonstriert zugleich ihre versteckten Ängste, dass ›ihr Betrieb‹ dadurch gefährdet werden könnte. Um dann diesem ›Un-geist‹ begegnen zu können, sollen schließlich diese ›Zweifler‹ im Rahmen einer gläubigen Missionierung bekehrt werden. Dieser Schritt wird letztlich als unvermeidbar dargestellt, um den nun einmal eingeschlagenen Pfad des Fortschritts in eine angeblich bessere Welt beibehalten zu können.

Es hat sich scheinbar bei diesen Technikern des Denkens noch nicht herumgesprochen, dass › Skepsis‹ sich von dem griechischen Wort σκέπτομαι herleitet und so viel wie ›untersuchen, erkunden, aufklären, prüfen, auf das Recht sehen‹ bedeutet. Die hier angeführten Übersetzungen sind ›GEMOLL‹ entnommen, wohl einem der umfangreichsten, griechischen Wörterbücher. Es erstaunt daher doch, dass diese Liste, die summarisch aufzählt, was in der ideologischen Hegemonie moderner Wissenschaften als Leitideen ihres Handelns und Denkens angeführt wird, nun plötzlich diskreditiert werden soll. Offenbar fühlen sich einige maßgebliche Hegemonen in ihrer ›Gottähnlichkeit‹ attackiert bzw. in ihrem Deutungsmonopol bedroht.

Maßgebend für diese Vermutung ist, dass dann, wenn wissenschaftliches Untersuchen und Erkunden durch die hochgepriesenen Werte des Kant’schen Zweifels geleitet würden, die Skeptiker nicht missioniert, sondern zur Teilnahme im ›Wissenschaftsbetrieb‹ eingeladen und aufgefordert würden. Tatsache ist allerdings, dass sie – wie etwa Anton Zeilinger in seinem Nobelvortrag auch erwähnt und mittels historischer Daten belegt – marginalisiert werden. Sie sind schlicht eine Bedrohung des Willens zur Macht, der keine anderen Willenskundgebungen neben sich dulden kann.

Es scheint daher nützlich daran zu erinnern, dass maßgebliche Vertreter dieser ungewöhnlichen Spezies – die Martin Heidegger allerdings bereits einer anderen Gattung, nämlich den ›Philosophen‹ zuordnet – denselben ›Wissenschaftsskeptizismus‹ gepflegt haben und es gerade deshalb schafften, in den Olymp der Geistesheroen aufgenommen zu werden. Ein aktuelles, demonstratives Vorzeigeexemplar wäre der Oberösterreicher Anton Zeilinger. Ich wähle aber Erwin Schrödinger, gleichfalls ein Österreicher, dessen diesbezügliche Veröffentlichungen seit nahezu einhundert Jahren kaum bekannt sind. Das soll nun nicht heißen, dass ›Schrödingers Katze‹ oder seine Wellenmechanik unbekannt wären. Aber seine kritischen und skeptischen Arbeiten zum ›naturwissenschaftlichen Weltbild‹ finden nur selten Beachtung. Würden sie auch jenen Kreisen, die solche Forschungsaufträge vergeben, vertraut sein, dann wäre es durchaus denkbar, dass das GALLUP-Institut keinen derartigen Auftrag erhalten hätte und das Geld sinnvoller investiert worden wäre. Schrödinger ist übrigens ein Zeitgenosse Heideggers, was vielleicht erklärt, warum die beiden in ihren Beurteilungen der heute gängigen Wissenschaften sehr ähnliche Positionen vertreten.

Um Schrödingers Skepsis greifbarer zu machen, beziehe ich mich auf zwei Vorträge, die er ein Jahr vor der Verleihung des Nobelpreises vor der ›preussischen Akademie der Wissenschaften‹ gehalten hat, also 1932[11].

Eine zentrale Frage dieser Vorträge ist: Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?

Grundlegend ist zunächst seine Kritik an jenem Ideal, das oben bereits zitiert wurde. Damit wird das sogenannte ›Objektive‹ erzeugt. Allerdings muss jegliche Forschung, die mit Experimenten arbeitet, eine Auswahl derjenigen Versuche treffen, die für interessant, wichtig oder aufschlussreich gehalten werden. Dass diese Auswahl von subjektiven Vorgaben bestimmt wird, ist nicht zu leugnen. Aber noch wesentlicher ist, dass sie letztendlich von ökonomischen Überlegungen bestimmt werden. Es ist heute gängige Praxis, dass größere Experiment mithilfe von Computermodellierungen den Nachweis liefern müssen, dass sie zielführend sind. Und das Ziel bzw. dessen Förderungswürdigkeit wird von den Geldgebern bestimmt. Erst nach solchen Simulationen eines Experiments werden die benötigten Mittel bewilligt. Von Objektivität kann folglich keine Rede mehr sein. Nur die Entscheidungsträger werden getauscht und diese haben meistens von wissenschaftlichen Forschungsanliegen wenig Ahnung bzw. verfolgen sie grundsätzlich andere Anliegen.

Schrödinger listet in der Folge seiner zwei Vorträge fünf, wie er es nennt, ›milieubedingte Züge der heutigen Physik‹ auf. Ich versuche im Folgenden zwei davon zu skizzieren. Er bezeichnet einen davon als die ›Methodik der Massenbeherrschung‹ durch rationale Organisation bzw. ›fabrikmäßige Vervielfältigung‹. Das weist wiederum auf dahinterliegende dominante Wirtschaftsinteressen hin, denn Wirtschaftsinteressen sind in hohem Maß von den sogenannten ›economies of scale‹ bestimmt. Der andere charakteristische Zug betrifft die zunehmende Dominanz der Statistik bei der Gewinnung neuer Erkenntnisse.

Mit ›Massenbeherrschung‹ meint er nicht das, was Ortega y Gasset[12] im ›Aufstand der Massen‹ einige Jahre davor thematisiert hat, sondern jene Technik, die mit zahlenmäßig großen Gesamtheiten umzugehen erlaubt. Er beschränkt sich bei der Diskussion dieses Themas nicht nur auf die Produktion massenhafter Güter in der Rechtsprechung. Auch diese wird von der ›fabrikmäßige‹ Herstellung ihrer Güter dominiert. Diese Weise der Produktion spielt allerorts eine zentrale Rolle, z.B. in der Medizin. Die Beherrschung – wieder taucht das Wort ›Herrschaft‹ auf – dieser Produktionsweise wird vorrangig durch mathematische Analysen ermöglicht. Deren Form einer Aussage – Mathematik ist eine Sprache – erlaubt erst, die Kenntnisse, die man hat, so zu formulieren, dass die Form der Aussage für jede Stelle dieselbe wird. Damit zeigt sich unübersehbar der wesentliche Charakter dieser Sprache und offenbart den tieferen Grund für die Wahl dieser Artikulationsweise: Sie erlaubt Normierung. Es handelt sich dabei offenbar, doch unausgesprochen, um eine ›Befehlssprache‹[13]. Im Computerzeitalter kann diese Einsicht nicht mehr erstaunen, lebt doch diese Technologie von der Systematik solcher Befehlssprachen. Zu der Zeit, in der Schrödingers Vortrag gehalten wurde, gab es aber noch keine Computer. Damit wird deutlich, dass Schrödinger ein tiefergreifendes Verständnis der Vorgänge hatte, deren Vervollkommnung ihres We-seins erst heute deutlich wird. Zugleich findet sich hier treffliches Anschauungsbeispiel für das, was Heidegger mit ›Seyn‹ bezeichnet, wie wir im Folgenden noch sehen werden.

Dies lieferte Anlass genug, sich im Rahmen dieses Essays auf seine Einsichten zu berufen. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass der spätere Nobellaureat eine spezifische Begleiterscheinung dieser Massenbeherrschung mithilfe der erwähnten Organisationsform nicht übersieht. Mit dieser wird nämlich unausweichlich eine zunehmende Überwachung aller denkmöglichen Beteiligten zur Bedingung.

Schrödinger meint ferner, damit kommen wir zum zweiten milieubedingten Punkt, dass eine spezifische Form der Massenbeherrschung die Anwendung von Statistik sei. In diesem Teil seiner Darlegungen betont er, dass das ›Wesen der Statistik‹ darin bestehe, dass sie auf Detailkenntnisse verzichtet, aber gerade deshalb neue Erkenntnisse erlaubt und damit ein grundlegende Transformation des überhaupt Erkennbaren ermöglicht. Er übersieht erstaunlicherweise nicht, dass das Wort ›Statistik‹ allein schon sagt, was es meint: eine ›Staatswissenschaft‹. Sie wurde zwar nicht in Frankreich, sondern schon in England unter der Bezeichnung ›political arithmetic‹ im 17. Jahrhundert erfunden, aber erst in Frankreich des 19. Jahrhunderts wurde sie im Rahmen einer sogenannten ›physique social‹ als Instrument der Massenbeherrschung propagiert. Schrödinger betont in diesem Kontext zugleich, dass dieses Instrument ›viel zu kritiklos‹ verwendet wird.

Für unser Thema mag diese Feststellung eines Physikers insofern nützlich sein, als alle jene, die sich einer allgemeinen Impfpflicht etwa bei COVID-Impfungen deshalb widersetzt haben, weil dieses Verfahren nicht einmal statistisch hinreichend getestet war und zusätzlich aufgrund der bereits erwähnten, unausweichlichen Vernachlässigung persönlicher Details auch die statistisch erfassten Wirkungen für spezifische, einzelne Personen uninteressant werden. Potentielle Nebenwirkungen, die für einzelne Personen von hoher Wichtigkeit sein können, werden nach Art des Roulettespiels dadurch trivialisiert. Man sollte sich daher über den konstatierten Skeptizismus nicht über Gebühr wundern.

Es bleiben nun noch zwei wichtige, anfängliche Fragen unbeantwortet:

1. Was ist das We-sein des Menschen? und 2. Was heißt Denken?.

Was ist das We-sein des Menschen?

Mit Gewissheit ist der Mensch kein Vektor und mit dessen Hilfe auch nicht beschreibbar. Solches wäre eine unakzeptable Abstraktion und Verallgemeinerung oder – wie bereits gesagt – eine unakzeptable Gleichsetzung von Begriff und Sache, wie oben bereits besprochen wurde. Jeder Mensch erlebt sich als wesentlich. Ohne dieses Wesen wäre alles nichts.

Ausholend muss nun noch auf Heideggers Wahrheitsverständnis eingegangen werden. Heidegger beginnt seine diesbezüglichen Überlegungen mit dem griechischen Wahrheitsbegriff: aleJeia (aletheia).

Dieses Wort ist eine Negation. Sie bezeichnet das Un-verborgene. Wahrheit ist für die Griechen das Un-verborgene. Dieses ›Un-‹, (griechisch:’a-) fordert allerdings die Existenz dessen, was verborgen ist. So kann etwa ›Un-kenntnis‹ nur gegen den Hintergrund einer Kenntnis konstatiert werden. Ähnliches gilt für Un-fall, Un-glück oder Un-sicherheit. Sie können nur im Vergleich zu Sicherheit, Glück oder einem Fall (das ist ein Rechtsfall) als solches ›Nicht-Glück‹ etc. erfasst werden.

Wenn also ›Wahrheit‹ das Unverborgene bezeichnet, dann gibt es zwangsläufig auch ein Verborgenes. Dieses Verborgene wird zwar nicht wahrgenommen, aber, wie man auch sagen könnte: es west an oder anders ausgedrückt: es gibt es. Es gibt es, auch wenn es nicht, d.h. noch nicht wahrgenommen wird. Doch im Laufe der Zeit wird es sich zeigen, wird in Erscheinung treten und so die gegenwärtige Wahrheit verändern. Wenn z.B. diese Unverborgenheit die Erde als Scheibe erscheinen lässt, so zeigt es sich irgendwann, dass sie eine Kugel ist. Wenn eine bestimmte Gesellschaft als demokratisch erscheint, so zeigt es sich, dass sie eine Diktatur ist. Folglich gilt:

»…was sich nur so kundgibt, dass es im Sichverbergen erscheint, dem entsprechen wir auch nur dadurch, dass wir darauf hinweisen und hierbei uns selber anweisen, das, was sich zeigt, in die ihm eigene Unverborgenheit erscheinen zu lassen. Dieses einfache Weisen ist ein Grundzug des Denkens, der Weg zu dem, was dem Menschen einsther und einsthin zu denken gibt.« [14]

Das Sein (i.e.: die Was-heit) dieses Sichverbergenden können wir nur erahnen, aber nie beweisen oder gar fest- bzw. herstellen. Im besten Fall können wir auf das Verborgene und Verschleierte hinweisen. Wir können die Aufmerksamkeit darauf lenken: ›Moment, da wurde etwas übersehen.‹ Doch, was da übersehen wurde, seine Was-heit, wird sich erst irgendwann enthüllen. In anderen Worten können wir – und das heißt nicht jederzeit, jeder oder alle – darauf hinweisen. Dieses Weisen der Weisen ist ein wesen-tlicher Bestandteil unseres Mensch-seins.

Doch das Weisen des Menschen macht nicht allein das Wesentliche seines Wesens aus. Das, was uns von anderen Seienden unterscheidet ist das ›In-der-Welt-sein‹, wie dies Heidegger bezeichnet. Man möchte glauben, dass in der Welt auch anderes Seiendes ist: Steine, Gestirne, Pflanzen, Tiere etc. Ja, sie sind tatsächlich in der Welt, aber es ist unsere Welt, in der sie sind, nicht ihre. Mit ›Welt‹ wird nämlich das bezeichnet, was in unseren Köpfen dank unserer Sprache west. Diese steht zwischen uns und den ›Dingen da draußen‹.[15] Was in den ›Köpfen‹ mancher Tiere ist, ist nicht ident mit dem, was in unserer Welt ist. Und wir, wir leben in dieser Welt in unseren Köpfen; weder in ihrer und schon gar nicht in einer objektiven Welt außerhalb unserer Köpfe. Auch Physiker leben nicht in einer solchen Welt, sondern sie schaffen sie in Laboren und Experimenten und glauben dann, dass das ›die Welt schlechthin‹ sei, eine Welt, in der allgemeingültige Gesetze herrschen, die sie selbst erfunden haben.

Das We-sein des Menschen ist dieses ›In-der-Welt-sein‹.

Was heißt Denken?

Der Titel dieses Kapitels ist zugleich der Name einer zweisemestrigen, später auch publizierten Vorlesung, die M. Heidegger Anfang der Fünfzigerjahre an der Universität Freiburg gehalten hat. Daraus wird bereits ersichtlich, dass in den nachfolgenden Zeilen nur auszugsweise Wesentliches kolportiert werden kann. Das mir Wesentlich-erscheinende ergibt sich aus Heideggers Seinsontologie. Das, was erscheint, erscheint so wie die Wahrheit nie als Ganzes. Das hat mehrere Gründe. Der simpelste ist, dass man bei vielem oft nur eine uns zugewandte Vorderseite zu Gesicht bekommt. Das Ge-sicht oder Ge-schaue bestimmt, was die Vorderseite ist. Ein anderer, bereits seltener bedachter Umstand ist, dass vieles von dem, was und wie es erscheint, von unseren Vorstellungen und auch dessen Verstellungen geprägt ist. Dabei ist Vor- und Verstellen umfassend gemeint. Es meint nicht nur das, was man sich vorstellt oder wie es sich vorstellt, sondern auch, dass häufig etwas davor gestellt ist, sodass nur Teile des Erschienen wahrgenommen werden können.

Für Heidegger ist aber ein weiterer Aspekt bedeutsam, nämlich dass in Anlehnung an die Philosophie des frühgriechischen Philosophen Heraklit die Dinge niemals als Ganzes erscheinen, sondern ihre eigene Widersprüchlichkeit erst im Laufe der Zeit erscheint, sie ›reifen‹. Dieses partielle Erscheinen ist demnach nicht durch individuelle Be- und Einschränkungen verursacht, sondern liegt an den Dingen selbst, die eben einem multidimensionalen Prozess des Werdens unterworfen sind. Einem neugeborenen Kind ist nicht anzusehen, wie und was es als erwachsener Mensch sein wird und schon gar nicht am Tag seines Todes. Das (ganze) Wesen ist erst zu erkennen, wenn es ge-we-sein ist.

Doch das Erkennen des gesamten Wesens wäre in vielen Fällen sehr wesentlich. Entscheidungen derart wie: Soll ich mich an einen bestimmten Menschen binden, etwa ehelichen, eine Organisation oder politische Partei unterstützen, mit einer Versicherung einen Vertrag abschließen oder mich impfen lassen, sind oft leichter zu treffen, wenn bedacht wurde, wer oder was er, sie, es ist. Solches Be-denken ist das Denken des Seins von dem Heidegger spricht.

Nun könnte man einwenden, wenn es sich um die Wissenschaften handelt, dass doch gerade viele Wissenschaften darum bemüht sind, Prognosen zu erstellen. Solche Prognosen haben meistens nur kurzfristige Gültigkeit und selbst diese werden oft genug im Nachhinein korrigiert. Sie unterstellen dem Sein dieser Phänomene eine statistische Gesetzmäßigkeit, die deren Sein eben nicht entspricht. Schrödinger bezeichnet das als eine ›statistisch‹ erfasste Erkenntnis. Diese ist allerdings wieder Resultat von massenhaften Betrachtungen, wie sie das ›Gesetz der großen Zahl‹ einfordert, und braucht sich folglich auch nicht um Einzelfälle zu kümmern.

Wesentliche Einzelereignisse, wie der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Wandel der kommunistischen oder demokratischer Parteien im Laufe ihrer Geschichte oder Finanzkrisen, werden meistens nie vorhergesehen oder nicht ernst genommen. Das dürfte daher kommen, dass sich die Wissenschaften mit dem Sein des Seienden, d.h. der Was-heit und dessen Werden nicht beschäftigen (oder nur auf der Basis von Statistiken) und das Ganze eines werdenden Seienden nicht be-denken.

Anders als unsere ›Propheten‹ haben die antiken Orakel oder Propheten nicht mit Statistiken gearbeitet und sie haben auch keine Prognosen gemacht. Sie haben vielmehr auf Dinge hingewiesen, die verschleiert und verborgen waren, ohne konkret sagen zu können, was sich dahinter verbirgt. Denn: das Konkrete wächst, wie schon das Wort selbst sagt. Es wächst etwas zusammen, nach inneren Vorgaben und unter äußeren Einwirkungen. Das Ergebnis wird folglich von einem multikausalen Prozess bestimmt. Diese Mehrdimensionalität wird gerne aus praktischen Gründen übersehen und in Experimenten absichtlich ausgeschlossen.

So stellte sich von den vielen Virologen, zumindest in der Öffentlichkeit, kaum einer die Frage, wie die gigantische, milliardenfache Impfaktion im Kontext der COVID-Epidemie die Umwelt der Viren und ihre Mutationsfreude beeinflusst. Dass das Sein der Viren im Ganzen in Abhängigkeit von ihrer Umwelt zu betrachten wäre, blieb ausgeschlossen. Im Gegenteil, sie wurden in klinisch sauberen Laboratorien studiert. Das Ganze wurde so absichtlich, wie in den meisten anderen wissenschaftlichen Forschungen auch, auf einige wenige Aspekte reduziert, um das Anwesen der anwesenden Versuchsobjekte zu erforschen. Was sonst verborgen doch anwesend ist, wird nicht bedacht und folglich nur dann beachtet, wenn ein Zufall waltet, wie etwa bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen u.ä. Der durch die Umwelt bedingte Wandel kann so nicht wahrgenommen werden und wird folglich notwendigerweise übersehen.

Gefangen in ihrem unreflektierten und unbedachten Verständnis vom Sein des Seienden denkt die Wissenschaft nicht, d.h. nur selten. Wissenschaftern, wie E. Schrödinger, René Thom[16] oder David Bohm[17], der z.B. eine ganzheitliche Physik propagierte, wird aufgrund ihrer Bemühungen einer ganzheitlichen Sehweise mit Misstrauen und Unverständnis begegnet[18]. Sie passen eben nicht in den ›Betrieb‹. Daher kommt, dass Heidegger sagt: Wissenschaft denkt nicht.

Es wäre aber für ›diese Wissenschaft‹ hoch an der Zeit, sich von dieser engen Sichtweise zu befreien. Daher zum Abschluss noch ein anderer provokanter Satz Heideggers:

Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, dass die seit Jahrhunderten vorherrschende Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.‹[19]

Stattdessen, schlage ich vor, sollten Wissenschaft und andere Zeitgenossen sich dem Studium und Pflege der ataraxia (ἀταραξία, eine ausgeglichene Gemütsruhe[20]) des Epikur zuzuwenden. Denn die katastrophalen Folgen bornierter Eingeschränktheit zeigen sich zunehmend häufiger.

Literaturverweise

Adorno, Th. (2006): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2020.

Bohm, D. (1980): Wholeness and the Implicate Order, London: Ark, Routledge & Kegan 1983.

Douglas, M. (1966): Purity and Danger, Middlesex: Penguin 1970.

Heidegger, M. (1943): »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 2003.

Heidegger, M. (1943): »Nachwort zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 2003.

Heidegger, M. (1949): »Brief über den Humanismus«, in: ders.: Wegmarken, Frankfurt/Main: Klostermann 2013.

Heidegger, M. (1951/52): »Was heißt Denken?« Vorlesungen an der Univ. Freiburg, Frankfurt/Main: Klostermann 2002.

Heidegger, M. (1954): »Was heißt Denken«, Vortrag; in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: G. Neke.

Heidegger, M. (o.J.): »Vortrag, ›Überlieferte Sprache und technische Sprache‹«, hg.: Hermann Heidegger, St. Gallen: Erker Verlag.

Ortega y Gasset, J. (1929/1931): Der Aufstand der Massen, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1931.

Schmutzer, M.E.A. (1994): Ingenium und Individuum – Eine sozialwissenschaftliche Theorie von Wissenschaft und Technik, Wien/New York: Springer.

Schmutzer, M.E.A, (1995): »Sprache und Technologien«, Technik und Gesellschaft Jb. 8.

Schmutzer, M.E.A, (2017): »Technik Macht Gesellschaft«, in: ders.: Um-Wege zur Un-Wahrheit, Bielefeld: transcript.

Schrödinger, E. (1932): »Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? – Erweiterter Vortrag vor der Physikalisch-mathematischen Klasse der preussischen Akademie der Wissenschaften«, in: K. von Meyenn (Hg.): Quantenmechanik und Weimarer Republik, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg & Sohn 1994.

Schrödinger, E. (1947): »Die Besonderheit des Weltbilds der Naturwissenschaft«, in: ders.: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild, München: Oldenbourg 1962.

Thom, R. (1972): Structural Stability and Morphogenesis, Mass.: Benjamin 1972.

Zeilinger, A. (2005): Einsteins Spuk – Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik, München: Goldmann 2007.


[1] Würde man darüber hinausgehen, so bliebe nur das ›Nichts‹ und dieses ist eben ›nichts‹, was Heidegger nachdrücklich bestreitet.

[2] Übernommen aus: »Nachwort« zu: »Was ist Metaphysik?« (Heidegger 1943: 303) und aus: »Brief über den Humanismus« (Heidegger 1949: 314–316).

[3] Heidegger 1943: 305.

[4] Nicht überhören darf man dabei, dass derartige Bezeichnungen zugleich die Begründung liefern, diese ›Un-menschen‹ auch entsprechend un-menschlich zu behandeln.

[5] Heidegger 1943: 306.

[6] Ein bekanntes Beispiel aus der Kulturanthropologie wäre das ›Pangolin‹ (Schuppentier), das nicht in die ›Weltordnung‹ der Lele passt und folglich rituell geopfert und getötet wird. Unmenschen werden gleichfalls, wenn auch inhumaner, vernichtet. Dazu: Douglas 1966.

[7] »Die Besonderheiten des Weltbildes der Naturwissenschaften. Eine Antinomie des Demokritos von Abdera« , in: Schrödinger 1947.

[8] Heidegger 1943: 304.

[9] Vgl. Adorno 2006.

[10] Schrödinger 1932: 25.

[11] Siehe Literaturverzeichnis

[12] Siehe Literaturverzeichnis

[13] Befehlssprachen werden so gestaltet, dass sie eindeutig, nach Möglichkeit sogar eineindeutig sind. Damit wird erreicht, dass Aussagen in solchen Sprachen nicht länger verhandelbar sind. Dazu: Schmutzer 2017.

[14] Heidegger 1954: 134.

[15] »Die Sprache ist die Zwischenwelt zwischen dem Geist des Menschen und den Gegenständen« (Heidegger o.J.)

[16] René Thom ist Begründer der mathematischen ›Katastrophen-Theorie‹. Dazu: s.u.

[17] Dazu: Bohm 1980.

[18] Weitere Beispiele zur Technisierung der Wissenschaften finden sich in Schmutzer 1994, Kapitel 4. Aktuell wäre z.B. auch A. Zeilinger zu nennen. Siehe: ders. 2005.

[19] Heidegger 1943.

[20] Analog zu ›A-letheia‹, das Nicht-verborgene, ist die ursprüngliche Bedeutung von ›tarache‹ (ταραχη Unordnung, Unruhe. Die A-tarache bzw. Ataraxia (ἀταραξία) ist demnach eine ›Nicht-unordnung‹, also Ordnung und Ruhe.


 

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