Wie fungiert die Urteilskraft?

Zum klassischen Begriffsinventar der Aufklärung gehört auch die Urteilskraft. Sie verspricht praktischen Nutzen, aber wie sie funktioniert, bleibt unklar. Anlässlich des Erscheinens seiner Studie über Rousseau und die Aufklärung der Urteilskraft wirft Rainer Enskat für das Velbrück Magazin ein Schlaglicht auf das Rätsel Urteilskraft.


Wie fungiert die Urteilskraft?

Von Rainer Enskat (Halle)

In der neuzeitlichen Philosophie sind die Funktionsweise und die Bedeutsamkeit, aber auch die Rätselhaftigkeit der Urteilskraft mehrmals zur Sprache gebracht worden. Heidegger betont: »Die Urteilskraft ist eine schwierige Sache«.[1] Rousseau umgeht diese Schwierigkeit in gewisser Weise, indem er ihre Abhängigkeit vom Geschmack mit Hilfe einer instrumentellen Analogie charakterisiert: »Der Geschmack ist in gewisser Weise das Mikroskop der Urteilskraft«.[2] Darüber hat Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ein ganze Theorie ausgearbeitet.[3] In der Kritik der reinen Vernunft charakterisiert er sie negativ: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das was man Dummheit nennt«[4], aber impliziert damit gleichwohl, dass Klugheit eigentlich das ist, was der Gebrauch der Urteilskraft allmählich verschafft. Doch wie sie genau fungiert, lassen alles genannten Denker offen.

Vielleicht gibt Rousseaus technische Analogie den wichtigsten Fingerzeig in die richtige Richtung. Mir scheint Brennglas die angemessenere technische Analogie zu sein. Denn das Brennglas versammelt alle Lichtstrahlen (les lumières!) so, dass sie in einem äußeren Punkt, dem Brennpunkt, zusammentreffen. Diese Charakterisierung – mit der ein wenig kühnen französischen Übersetzung – zeigt, dass die Urteilskraft mit ihrer die Klugheit begünstigenden Funktion schon von Haus aus auf der Grenze zur aufgeklärten Urteilskraft zu Hause ist. Doch da die Aufklärung der Urteilskraft ohnehin niemals ein Maximum oder Optimum erreicht, bildet der Gebrauch der von der Urteilskraft begünstigten Klugheit die alltagstauglichste Form humaner kognitiver Nützlichkeit. Sie versammelt die in einer konkreten praktischen Situation – dem ›Brennpunkt‹ – nützlichsten Informationen und Ratschläge – die Lichtstrahlen –, um sie zugunsten eines trefflichen praktischen Urteils über diese Situation fruchtbar zu machen.


[1] So in einem Brief Heideggers an Hannah Arendt.

[2] „Le goût est en quelque maniere le microscope du jugement“, Rousseau, La Nouvelle Héloïse, Œuvres complètes II, S. 59.

[3] Vgl. Kritik der Urteilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, sog. Akademie-Ausgabe ( = Ak. Iff.), Ak VII, S. ??-???, sowie Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl, Göttingen 2001.

[4] Kritik der reinen Vernunft, B 172*.

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